Nach dem langen 20. Jahrhundert

Die „Corona-Krise“ krönt ein neues Zeitalter. Aber welches?

Das Prinzip der inneren Versöhnung des Geistes war an sich die Idee des Christentums, aber selbst wieder entfernt, nur äußerlich, als Zerrissenheit, unversöhnt. Wir sehen die Langsamkeit des Weltgeistes diese Äußerlichkeit zu überwinden. Er höhlt das Innere aus, – der Schein, die äußere Gestalt bleibt noch; aber zuletzt ist sie eine leere Hülse, die neue Gestalt bricht hervor. In solchen Zeiten erscheint dann der Geist, als ob er, der vorher einen Schneckengang in seiner Entwicklung, Rückschritte getan, sich von sich entfernt hätte, die Siebenmeilenstiefel angelegt habe.“1

– Mit diesen Worten beschreibt Hegel in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie den Eintritt des Weltgeistes in die „Neuzeit“ nach dem Mittelalter. Und nicht minder scheint auch heute diese Beschreibung auf einen Prozess zuzutreffen, dessen Beginn sich in etwa auf März 2020 – den „Ausbruch“ der „Corona-Pandemie“ – datieren lässt. Manch ein prominenter Zeitgeist spricht in diesem Zusammenhang vom „Great Reset“.2 Dieser lässt sich aber sicherlich nicht als einfacher „Neustart“ verstehen, nicht als simpel-funktionales Aus- und Einschalten einer sozialen und ökonomischen Wirklichkeit. Sondern die Maschinen-Logik hat ihre Geschichte und organische Evolutivität. Wie Hegels so häufig angebrachtes Beispiel vom Keim, dessen Hülse bricht, nahelegt, muss jener vorher eine längere Entwicklung hinter sich gebracht haben, in welcher der „Bruch“ zwar ihr Augenscheinlichstes bedeutet, aber keineswegs rein plötzlich und unmittelbar vonstattengeht.

Der Keim der Neuzeit brach für Hegel mit dem Ende des Mittelalters auf. Zuvor aber musste er heranreifen – und das tat er im Mittelalter, nicht erst in der Neuzeit selbst. Heraus ergrünte, mit dem Tod Gottes, die Pflanze des Humanismus. Ihr Keim aber war gereift nach der Blütezeit der transzendenten Gottesidee, die Reife dieser Blüte ihre eigentliche Voraussetzung.

Schauen wir jetzt zurück, so sehen wir nicht nur das 20. Jahrhundert verwittern, sondern die lange Zeit der Idee des Humanismus. Das ist freilich keine neue Erkenntnis. Die Intellektuellen der sogenannten Postmoderne haben dies als letzte an sich wahrgenommen und beschrieben – manche auch verheißen. Mit dem Absterben der Blüte ahnten sie bereits die Reife der Frucht – oder vielmehr ließen sie diese auch in sich reifen. Daher ist es schlüssig, für diese Zeit des 20. Jahrhunderts den Begriff „postmodern“ oder „spätmodern“ synonym zu verwenden. Das letzte Jahrhundert war das der Fruchtreife, der Keimreife – und somit zugleich späte Phase des Humanismus und bereits sein Überkommen, das Danach des Neuen in seinem Embryonalstadium.

Wir haben heute verlernt in dieser Entwicklungslogik zu denken. Diejenigen Kritiker der Postmoderne und ihrer heute nach und nach sichtbarwerdenden totalitären Sprösslinge fordern oft selbst bloß gedankenlos den Humanismus zurück oder wenigstens eine erinnerte goldene, demokratische Zeit. Dass aber Zeiten und Epochen nicht unvermittelt und zufällig aufeinanderfolgen, dass sie ineinander verschachtelt durchaus eine eigene Logik bilden mögen, ein historisches Kontinuum formen – diesen Hochgedanken der humanistischen Zeit, eben der Zeit Hegels, Goethes, Beethovens, die so oft beschworen wird, umhüllt weiterhin, auch aus den Mündern der schärfsten Kritiker, ein allzu postmodernes Tabu – das Tabu der Historie, der Entwicklung, des schamlos „großen“ Denkens. Wir haben – so impertinent muss man es leider aussprechen – das Denken selbst verlernt, das selbstbewusste Denken jedenfalls, dasjenige, das weiß, wie es denkt und darüber Rechenschaft abgeben kann. Ein Foucault interessierte sich für die Transzendentalität wie ein Naturforscher für sein Versuchsobjekt – am Ende dieser Auseinandersetzung stand jedoch vielmehr die Faszination für ein blindes Denken, eines, das in seiner unmittelbaren Vielheit vermeintlich frei sein sollte.

Augenscheinlich wurde das Denken bis heute befreit von seinen humanistischen Ballasten: Die scharfschneidigen Konturen und analytischen Kontraste haben sich verwischt, die totalitäre synthetische Begriffsbrille wurde abgelegt. Es feiert sich der Pointillismus in der Vernunft. Das Subjekt wich den Subjekten, den vielen, schwerelosen. Diese Freiheit des Denkens erweist sich aber spätestens jetzt vielmehr als eine Freiheit vom Denken. Die nahezu absolute Willfährigkeit der Massen, wie sie durch die Corona-Krise erfahrbar wird, hat ihre epistemische Vorgeschichte.

Jenseits der neuen Denk-Hygiene und unbewussten Servilität dagegen staucht sich jetzt die verbliebene Wildnis zusammen. Im Moment der Kontraktion, der „Aufhebung“, die das lange 20. Jahrhundert endlich beschließt und das 21. Jahrhundert bekrönt, haben sich die alten Dichotomien jäh aufgelöst und zusammengezogen. Die gerade vielbeschworene gesellschaftliche Spaltung bedeutet eben jenen endgültigen Bruch im Keim der neuen Ordnung. „Die neue Gestalt bricht hervor“ und sie vereint alle unter sich, die ihr folgen, mögen sie gemäß der alten Ordnung, die in „links“ und „rechts“ trennte, noch verfeindet gewesen sein. Gleichfalls finden sich jene Übrigen, die ihr nicht folgen wollen, plötzlich als verschmolzen in Gestalt der „leeren Hülse“ wieder. Vor der neuen Moral sind sie nunmehr wilder Haufe, gestaltloser Abfall, das abgelegte Kleid einer überkommenen Herrschaftsform.

Für den Posthumanisten Nietzsche sind sie die „letzten Menschen“, die endgültig ihre Transformation zum Höheren verweigern und verraten. Den Weg zum Übermenschen wollen sie nicht mitgehen. Von der neuen Zeit notiert Nietzsche in seinem Nachlass:

Die Menschheit wird sich im neuen Jahrhundert vielleicht schon viel mehr Kraft durch Beherrschung der Natur erworben haben als sie verbrauchen kann und dann wird etwas vom Luxushaften unter die Menschen kommen, von dem wir uns jetzt keine Vorstellung machen können. Gesetzt, der Idealismus der Menschen in ihren Zielen bliebe nicht stehen, so könnten dann großartige Unternehmungen gemacht werden, wie wir sie jetzt noch nicht träumen. Allein die Luftschifffahrt wirft alle unsere Culturbegriffe über den Haufen. Statt Kunstwerke zu schaffen wird man die Natur in großem Maaße verschönern in ein paar Jahrhunderte Arbeit, um z.B. die Alpen aus ihren Ansätzen und Motiven der Schönheit zur Vollkommenheit zu erheben. Dann wird alle frühere Litteratur etwas nach der Enge kleiner Städte riechen. Ein Zeitalter der Architektur kommt, wo man wieder für Ewigkeiten wie die Römer baut. Man wird die zurückgebliebenen Völkerschaften Asiens Afrikas usw. als Arbeiter verwenden, die Bevölkerungen des Erdbodens werden anfangen sich zu mischen. Wenn man an die Vergangenheit denkt, wird man an den düsteren Trübsinn und die träge Beschaulichkeit derselben denken: Feuer und Überschuß an Kraft Folge der gesunden Art zu leben. Um eine solche Zukunft vorzubereiten, müssen wir die Trübsinnigen Griesgrämigen Nörgler Pessimisten separiren und zum Aussterben bringen. Die Politik so geordnet, daß mäßige Intellekte ihr genügen und nicht Jedermann jeden Tag drum zu wissen braucht. Ebenso die wirthschaftlichen Verhältnisse ohne die Gier ob leben und sterben. Zeitalter der Feste.“3

Viel deutet darauf hin, dass die Zeit der Träume, Visionen und Ideen, die den Reifeprozess der posthumanistischen Keimphase gebildet haben, heute ihr Ende gefunden hat. Der im Keime verdichtete Geist drängt endlich nach außen, zur Tat. Wer aber seine Motiviertheit wirklich verstehen will, wer nicht als verdorrte Hülse zurückbleiben will, muss sich aus der Entwicklungslogik dieses Geistes selbst herausschälen, darf nicht lediglich seine frühere Gestalt zurückfordern.

Wollen wir jenseits der epistemischen Struktur der Postmoderne und ihrer grausigen Nachfolgeschaft begreifen, womit wir es zu tun haben, so darf nicht vergessen werden, auf welchem Boden diese Ordnung erwachsen ist. Nämlich stellt sich die Menschheitsgeschichte der letzten fünf- bis sechstausend Jahre, die eine patriarchale Geschichte der Gewalt, des Krieges, der Sklaverei und der Herrschaft war, gewiss nicht als zufällige Abfolge von guten und schlechten Zeiten dar, von denen es die guten zurückzuholen gilt. Soll der gegenwärtig sich ankündigende Post- oder Transhumanismus verhindert und bekämpft werden, muss dieser radikal verstanden und erkannt werden. Es gilt schließlich nicht nur seine jüngste Form zu revidieren, seinen zuletzt erwachsenen „grünen“ Kopf. Die Falle, die die neue Ordnung ihren Kritikern gestellt hat, ist die der Regression. Nichts ist jetzt einfacher, als reaktionär und ohnmächtig zu sein.

Angesichts einer sich nunmehr konkret und nicht länger bloß visionär ankündigenden globalen totalitären Herrschaft darf diese nicht als plötzliches, isoliertes Ereignis betrachtet werden, sondern es muss – insbesondere jetzt, an einem erneuten Nullpunkt der Geschichte – nach ihrer Historizität gefragt werden. Was dann sichtbar wird, ist ihre Endlichkeit – entgegen ihren eigenen Beteuerungen der Naturwüchsigkeit und Ewigkeit. Dass die Geschichte der Menschheit nicht mit der Geschichte der Herrschaft und des dualistischen Strebens nach dem Absoluten gleichzusetzen ist, dass diese letztere Geschichte, die Hegel die Geschichte des Weltgeistes nennt, eine bestimmte ist, die in der Zeit erwachsen ist, die sich jedoch als einzige Zeit setzt, alles vor und neben ihr als Vorzeit diffamiert und verleugnet – dies zu erkennen und genauer zu verstehen wäre Voraussetzung eines tätigen Denkens und bewussten Handelns, das wirklich in der Lage wäre, selbstbestimmt ein neues Zeitalter zu begründen.

1 Hegel, G. W. F., Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, Frankfurt a. M. 1971, S. 62.

2 Schwab, Klaus, Malleret, Thierry, The Great Reset, Cologny/Genf 2020.

3 Nietzsche, Friedrich, KSA 9.135.